Rezension zu Meinhart M. Etzner: Schnulzgenecker, Nulzgeschnecker und Varianten im Rhein-Main-Tiefland-Randstand um Hainchen

(= Weltkulturerbe Wetterau. Schriftenserie des Zentrums für Alphabetisierung der Muslim-Göte-Universität Frankfurt am Main, Terminal IV, Heft 4, hg. von Masodie Freydürst), Doha 1431 / Frankfurt a. M. 2010; vii und 69 Seiten, 1 Karte (Wetterau-Aufschnitt), 1 Grafik (Eyn Schlunggenczegger getodt an sym Gespyl, aus: Forchtel Väth, Was dem Babbest ze Sinnen kommpt ze Schaffen des nahchts cum Prologo Doctoris Martini Lutther, Wittembergis 1571), Register, in: Historischer Verein Hainchen, Jahrbuch, 1. Bd. (= Festschrift für Bernd Schneidmüller zum 60. Geburtstag), Universitätsverlag Sommer, Heidelbeere 2014, Seite 63f.

Der Prosodie des Erlaubten im Unerlaubten selbst in der Bewertung spätmittelalterlicher Professionalisierungstypologisierungen in den Spuren von Schnippeldeys Gährung, Schliffensiegs Wahrung und Oevermanns Bewährung objektiv hermeneutisch nachzuspüren, ist auch hier wieder - man möchte sagen: wie keinem anderen - Etzner feinfühligst gelungen. Die Publikation verleiht der Werkserie, in der es Masodie Freiydürst in erprobter Tiefe allseits rundum besorgt, neuerlichen Glanz und sollte alle islamophoben Bedenken, die der Übernahme der (früheren) J. W. Goethe-Universität durch Qatar Airways entgegengebracht wurden, endgültig zerstreuen. Etzner führt den geradezu melodischen (weil alta voce in Zu- und Rückruf elaborierten?) Wortschöpfungsreichtum des ausgehenden Mittelalters in ganz eigenständiger Höhe vor.

Er versteht es erstmals, die untereinander herleitbaren Begriffe - denen die Mediävistik noch der Beumann’schen und insbesondere Bischoff’schen Altvordernschule in unzulässiger Engführung allenfalls als orthographische Devianzen ein und desselben Terminus eine gewisse Aufmerksamkeit zugebilligt hatte - semantisch auszudifferenzieren und dieselben darüber hinaus höchst unterschiedlichen Handwerkssparten zuzuordnen. Etzner, und hier zeigt sich die Klarheit und Profundität einer nur im Einheitsganzen des gesamten Forscherlebens zu erwerbenden Quellendurchdringungstechnik, die nicht mehr fragt, sondern erkennt, stützt sich einzig wie einzigartig auf das bis dahin sträflich übergangene Wortmaterial des auf “um 1400” datierten Büdinger Klodeckelfragments, das bis dahin einzig wegen der lange als Desiderat gehandelten, hierin jedoch nun entdeckten Erstnennung von Hainchen zumindest in den heimischen Geschichtsvereinskreisen Bedeutung zu erlangen verstanden hatte (u. a. durch die Öffentlichmachung besagter Hainchen-Entdeckung auf dem Altenstadter Historischen Sonntagsseminar 2007 in der Schalterhalle der dortigen Filiale der Raiffeisenbank durch M. M. Etzner).

Aus den von Mäusefraß und -schiss beeinträchtigten Zeilen vermochte Etzner neben dem aus der Spruchdichtung bekannten Zungenschlecker (z. B. Volker von der Vögelheide, Die Flöte von Sodom, Manesse-Hs., ed. Sixtus Schniedelroth, Vers 5012f.) und den in Münzenberger Tradition zumindest schon angelegten Schlungenzecker, sondern eben auch den im Titel bereits erwähnten Schnulzgenecker und Nulzgeschnecker sowie schließlich die vorbildlosen Schungzenlecker und Lungzenschecker als sichere Erstnennungen von Berufsbezeichungen im sog. Wetterauer Dreieck (Altenstadt, Büdingen, Hainchen) zu erschließen und begriffsinterpretatorisch einen völlig neuen Kosmos des dortigen Gewerbeschweißes zu eröffnen.

Einzig was die Tempofragilität der Ontogenese angeht, will Rez. zu bedenken geben, ob nicht der Nulzgeschnecker zeitlich vor dem Schnulzgenecker anzusetzen ist, zumal Horst-Hubert Hohl doch wohl zweifelsfrei nachgewiesen hat, dass der Schnulz sich erst im 14. Jahrhundert von der Troubadourdichtung ablöste und das (antisemitische) Genecke mittels Schnulz berufsmäßig frühestens im schwäbischen Judenpogrom von 1338 in Gestalt des dingbaren Schnulzgeneckers in Gomaringen, Gomadingen und (mit gar zwei Nachweisen) in Hechingen temporär in Gebrauch gekommen war. In die Wetterau gelangte der Begriff, wie Etzner unter vielfältigen Verweisen auf frühere Studien aus seiner Feder mühelos zu belegen versteht, durch Zuwanderung aus dem Elsass (wobei die Überlegungen von Albert Réville, La Wetterau a excellé dans le médiocre, Paris 1889, S. 111ff., selbstverständlich als überholt zu gelten haben). - Weitere mit Spannung zu erwartende Ergüsse will Etzner im 5. Heft der Werkserie vorstellen.

Beinhart Rotter, Bad Vilbel